Wohnen am Stadtrand

Neubauviertel in Karow [Foto: Berlin vis-à-vis]

Am Rand von Berlin wird exemplarisch erlebbar, was tendenziell die Metropolenregion bestimmt: Wachstum, Transformation, permanent neue Fragenwie etwa zum Verkehrsaufkommen oder zur Versorgung. Vor allem aber die Hoffnung auf Entwicklungsschübe für eine lange Jahre vom Bevölkerungsschwund gekennzeichnete Großregion.

Die einstige Chemiestadt Erkner ist vielen nicht näher bekannt, ein Haltepunkt auf der Regionalstrecke Franfurt/Oder – Potsdam. Dreißig Minuten fährt der Doppelstockzug bis ins Zentrum von Berlin. Literaturliebhaber wissen vom Gerhard-Hauptmann-Museum, dem einstigen Wohnhaus des Nobelpreisträgers und Dramatikers. Dieser zog 1885 raus ins Grüne, um seine Gesundheit zu stabilisieren und sich mit Dichterfreunden, die sich in Friedrichshagen und Grünheide angesiedelt hatten, zu treffen. Erkner wurde zum Ende des Zweiten Weltkriegs stark zerstört und erfuhr einen erneuten Siedlungsschub mit dem DDR-Wohnungsbau-Programm in den 1970er-Jahren, mit Plattenbauten, die uniform, aber auch luftig und modern wirkten und über Zentralheizung und Bäder verfügten. Sie prägen mit ihrer sanierten Anmutung noch immer das streng axiale Stadtbild samt Kanalbrücke mit Blick auf den Dämeritzsee. Erkner grenzt an den Stadtteil Köpenick-Treptow. An seiner unmittelbaren Grenze stadtseitig wächst auf einem einstigen Militärgelände, das in den 1990er-Jahren Flüchtlinge aus Bosnien und Auswanderer aus Russland beherbergte, ein attraktives Wohngebiet mit Kita und Radweg am See. Der Anfang ist gemacht, fünf Häuser mit 216 schlüsselfertigen Mietwohnungen wurden von der Stadt und Land erworben. Ab Dezember dieses Jahres beginnt die Vermietung. Im Osten der Stadt wird exemplarisch erlebbar, was tendenziell die Metropolenregion bestimmt: Wachstum, Transformation, permanent neue Fragen, wie etwa zum Verkehrsaufkommen, oder zur Versorgung, vor allem aber Hoffnung auf Entwicklungsschübe für eine lange Jahre vom Bevölkerungsschwund gekennzeichnete Großregion.

Der jährliche Zuzug von 40 000 bis 50 000 Menschen nach Berlin, der damit verbundene Druck, gibt sich bereits über den Stadtrand in den Speckgürtel, zu dem auch Erkner gehört, weiter. Er wird zunehmend dank Offerten an Neubürger, günstigerer Miete und ruhiger Landschaft, aber auch dank Digitalisierung, Homeoffice und Verkehrsanbindung bis in den erweiterten Metropolenraum – ja bis nach Mecklenburg Vorpommern hinein weitergeleitet.

Zunächst aber zu Berlin und Brandenburg: Die sternförmige Ausrichtung Berlins entlang der Regionalzug- und S-Bahntrassen, deren Ursprung in die Anfänge des 20. Jahrhunderts verweist, bildet einen Entwicklungsraum, der bis in den „Städtekranz“, also zu den einstigen Ackerbürgerstädten in der zweiten Reihe, wie Angermünde, Eberswalde, Jüterbog oder Luckau, weitergedacht wird.

Das Berliner Umland bietet vor allem im Südwesten, aber auch in anderen Richtungen genügend Wachstumsflächen, zum Beispiel die Buckower Felder und Beelitz, Schönefeld, Teltow, aber auch die Spandauer Wasserstadt an der Havel – noch im Stadtgebiet, aber mit Ausstrahlung darüber hinaus. Idealerweise werden Städte und Kommunen im Inneren verdichtet. Sie bieten sanierte Orts- und Stadtkerne, die geistige, häufig noch reichlich verwaiste Mitte für die Verdichtung. Auch Brachen gibt es reichlich. Die Brache an sich ist ein Bild, das mit der ruppigen und formlosen Anmutung vieler Kommunen aufs Engste verbunden ist. Einstige Militärstandorte, verwaiste Industriegelände, Behelfswohnungsbau nach dem Krieg, Gleisanlagen. Vor allem diesen Großbrachen und Konversionsgebieten wird zu Leibe gerückt.

Überall Kräne und Bauzäune, auch Krach und Staub. Der Wohnungsbau boomt. In Oranienburg baut die Wohnungsbaugesellschaft mbH Oranienburg (WOBA) 360 Wohnungen im Norden der „Weißen Stadt“. Der Stadtteil wurde 2018 in das StadtumbauProgramm aufgenommen. Es wurden rund 3,4 Millionen Euro Bundes- und Landesmittel bereitgestellt sowie 2,2 Millionen aus der Städtebauförderung von Bund und Land nebst 1,1 Millionen von Oranienburg selbst. Oder Bernau mit einem dezentralen Stadtkern, der von der historischen Stadtmauer weitestgehend umschlossen ist. Im Rahmen der Wohnraumförderung wurden seit 1991 rund 81 Millionen Euro für mehr als 2 700 Wohnungen in Bernau bewilligt. Auf dem einstigen NS-Heeresbekleidungsquartier sind 2 000 neue Wohnungen geplant. Am Schönfelder Weg, einem separaten Kasernenareal, entstehen derzeit 600 Mietwohnungen, die als „Vitalwohnpark Pankower Bogen“ beworben werden. Neben Bauschuttbergen aus der Abrissmasse zeigen sich parallel die
L-förmigen vierstöckigen Wohnbauten im dunklen Klinkerkleid. Die ersten Wohnungen mit vier Meter hohen
Decken und Balkonen sind bereits bezogen.

Der zersiedelte Ort Rangsdorf dagegen mit Kunsthaus und See, verstreuten Villen und S-Bahn-Anschluss träumt noch von seiner Zukunft. Das Flughafengelände aus den 1930er-Jahren ist ebenfalls ein Konversionsgebiet, auf dem Wohnen in großem Maßstab möglich werden soll. Auf den Informationsplattformen des Ministeriums für Infrastruktur- und Landesplanung Brandenburg läst sich einsehen, wo gerade der Wohnungsbau voranschreitet. Mal sind es Einzelgebäude, mal größere oder beachtliche Quartiere, wie in der Hochschulstadt Wildau, die im Südosten Berlins als ein Ankerzentrum dient. Es werden 1 200 Wohnungen gebaut. Derzeit entstehen 170 Miet- und Eigentumswohnungen sowie Townhäuser am Rosenbogen. Die vier- bis fünfgeschossigen Häuser in klassischer Architektur (Bauwert AG) befinden sich kurz vor der Fertigstellung und erweitern ein bereits in den Neunzigern etabliertes, deutlich ländlicher gestaltetes Wohnquartier.

In Randlagen zu den Zentren bilden sich zumeist ganz typische und ebenso fragliche Muster der Stadtentwicklung heraus. Einfamilienhaussiedlungen und Reihenhäuser tangieren unvermittelt Areale mit Geschosswohnungsbau. Die jeweiligen Quartiere wirken dabei wie aneinanderdriftende Inselgruppen. Mit jeder Verdichtung werden die Fragen wichtiger, welche Stadt- bzw. Ortsbilder entwickelt werden sollen und welche Proportionen zueinander ein harmonisches und positiv spannungsvolles Gesamtgebilde ergeben. Es geht um soziale und funktional durchmischte Quartiere, aber gleichfalls um ästhetische Nachhaltigkeit, die vom Baumaterial über die Gestalt bis zur Proportion und Integration der Siedlungen und Wohnparks immer wieder neu diskutiert werden müssen. Der oft kritisierte „Fertighauseinheitsbrei“ – dazu zählt unter anderem die Flächenbebauung im Teltower Randbereich – wird zwar durch Mehrfamilienhäuser und Geschosswohnungsbau begrenzt. Dabei aber entsteht nicht selten ein beliebiges Nebeneinander.

Was aber ist schön? Der Speckgürtel trug selten den Schönheitspreis, faszinierte eher mit Mietpreisvorteilen und Gärten zur Selbstversorgung, Wasser, Wald und Wiese. Dennoch bestehen heute einige geachtete oder gar preisgekrönte Gartenstadtsiedlungen, von englischen Reformwohnideen des späten 18. Jahrhunderts inspiriert. Auch in Erkner gilt die Gartenstadtsiedlung mit Reihenhäusern am Bahnhof als das Tafelsilber, obwohl ihre Walmdachoptik heute etwas betulich wirkt. Kita, Schule, Badestrand – umso näher die Stadt heranrückt, desto weniger genügt das Vorhandene. Auch deshalb geht es um neue Ideen zum Thema, was der Speckgürtel außer wohnen zu leisten hat.

Anita Wünschmann

 

 

80 - Herbst 2019
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