Die Grips-Methode

„Wir haben aus politischen Gründen mit dem Kindertheater angefangen", sagt Intendant Volker Ludwig zum 40. Geburtstag von Berlins legendärem Kinder- und Jugendtheater. 

Der Junge im Mantel will endlich aussteigen, die „Linie 1“ verlassen. 23 Jahre sind genug! Doch er landet nach dem Willen des Autors Volker Ludwig in „Linie 2“, und das ist ein Alptraum, der sich sicher für die Zuschauer als Vergnügen entpuppt. Diesen Spaß gönnt sich das Grips-Theater zu seinem 40-jährigen Jubiläum, das im Oktober gefeiert wird. Gut die Hälfte des Grips-Lebens fuhr die „Linie 1“ mit: Das Musical wurde am 30. April 1986 uraufgeführt. Die U-Bahnlinie 1 verlief damals im Westteil der Stadt zwischen den Bahnhöfen Ruhleben und Schlesisches Tor (Kreuzberg). Ein Mädchen vom Land kommt nach Berlin, sucht seinen vermeintlichen Freund und lernt bei der Fahrt in der U-Bahn verschiedene Gestalten aus dem Berliner Milieu kennen. Das Stück wurde ein Welterfolg, mit dem das Theater in fünfzehn Ländern gastierte. Es wurde zudem auf deutschen und ausländischen Bühnen nachgespielt und im Haus selbst 1425 Mal aufgeführt. Linie 1 geht immer, ob am Anfang der Spielzeit oder zu Jahresbeginn, wenn Schulen und Kinder noch etwas theatermüde sind.

1986 war das Kindertheater aus dem Gröbsten raus, die Angebote für Jugendliche und Erwachsene etablierten sich. Blickt man zurück in die Anfänge, hat ein enormes Umdenken bis dahin stattgefunden. 1969 beginnt mit „Stokkerlok und Millipilli“ die Geschichte des Grips, das sich erst drei Jahre später so nennt und aus dem „Berliner Reichskabarett“ entstanden ist. „Wir haben aus politischen Gründen mit dem Kindertheater angefangen,“ sagt Volker Ludwig, Gründer, Intendant, Autor und Vater des Grips. „Wir wollten breitere Bevölkerungsschichten erreichen und nicht nur die intellektuellen Studenten, die sowieso unserer Meinung waren. Erziehung spielte damals eine große Rolle. Die ersten Kinderläden entstanden.“ Es gab seinerzeit kein wirkliches Theater für Kinder. „Nur die obligatorischen Weihnachtsmärchen,“ erinnert sich Ludwig, der damals Anfang 30 war. Es sollte das Selbstwertgefühl der Jüngsten gestärkt werden. „Man ging zum Italiener, weil dort die Kinder wie Menschen behandelt wurden.“ Die Idee der Grips-Gründer, an der sich bis heute orientiert wird, war, realistische Themen aus dem Alltag der Kinder zeitkritisch auf die Bühne zu bringen. Dazu noch Lieder, die ins Ohr und ins Hirn gehen. Es wird direkt ins Publikum gespielt und es wird viel gelacht. Die Grips-Methode hatte Erfolg im eigenen Haus, und die Stücke wurden anderswo nachgespielt. „Es war auch schick, links zu sein,“ sagt Ludwig und fügt an: „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“ Das Grips polarisierte die Stadt. Entweder die Lehrer entschieden sich für „Peterchens Mondfahrt“ oder fürs Grips. Die Theaterleute wurden von den Gegnern als Kommunisten beschimpft, sie würden den Kindern Respekt vor den Erwachsenen austreiben und letztlich politische Psychopathen heranzüchten. Die Kinder reagierten anders. „Sie erzählten nach Ende des Stücks nicht, was sie auf der Bühne gesehen hatten, sondern gleich von ihren Problemen und auch gleich, worüber wir das nächste Mal ein Stück machen müssten,“ sagt Ludwig. In den Stücken sahen und sehen sich die Kinder mit ihrem alltäglichen Ärger selbst im Mittelpunkt des Geschehens, entdecken, dass es anderen nicht anders geht. Was den Grips-Figuren an Macht fehlt, gleichen sie durch Witz aus. Und die kleinen, mutigen Grips-Kinder gewinnen immer. „Realistisches Theater mit positivem Schluss ist eigentlich paradox. Wir nennen es konkrete Utopien, zeigen: so kann‘s gehen, das ist real auch möglich,“ begründet Volker Ludwig. Außerdem fügt er lakonisch hinzu: „Katharsische Schlüsse gehen nicht, da ist einfach der Tag gelaufen.“ Immer wieder ist das Theater mitten im Zeitgeist. Ein schönes Beispiel ist „Ab heute heißt Du Sara“ (Premiere 1989) nach dem Roman „Ich trug den gelben Stern“ von Inge Deutschkron. Es war das erste historische Stück im Hause, und das Thema war umstritten. Waren die Zuschauer nicht in der Schule schon überfüttert mit diesem Thema? Fünf Tage vor der Premiere hatten die „Republikaner“ bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus erstmals fast acht Prozent der Stimmen bekommen. Und das Grips das aktuellste Stück auf dem Spielplan der Berliner Bühnen und die Kids aus Kreuzberg damit keineswegs vergrault. 85 000 Schüler sahen diese dreieinhalbstündige Geschichte. 

Nahezu jedes Stück – und es sind inzwischen über 100 – ist für dieses Theater eigens geschrieben, darunter Arbeiten von Lutz Hübner, Rainer Hachfeld, Dirk Laucke und natürlich Volker Ludwig. Aber das Publikum wartet stets auf Neues. Vier bis fünf Uraufführungen pro Jahr müssen sein. Um Autoren zu finden, ist mit Unterstützung des Berliner Energiedienstleisters Gasag der „Berliner Kindertheaterpreis“ ins Leben gerufen worden, mit dem bereits erfolgreich Autoren für das Grips engagiert werden konnten. Für die nächsten vier Jahre hat die Gasag schon ihre Unterstützung zugesichert. Das Energieunternehmen ist der erste Sponsor des Grips überhaupt. Im Dezember wird wieder ein Autoren-Wettbewerb ausgeschrieben. Mit in der Jury sitzt Fernsehstar Axel Prahl. Und das nicht zufällig: Er war Schauspieler am Grips, ebenso wie Heinz Hoenig und Petra Zieser.

Martina Krüger

40 - Herbst 2009