Der Dichter und die Großstadt

Am 17. November vor 75 Jahren starb Joachim Ringelnatz. Seine letzten Lebensjahre verbrachte der begnadete Poet und Schauspieler in Berlin – in der Stadt, die in seinem Werk vielfältige Spuren hinterließ.

„Nach Berlin, nach Berlin, / Nach Berlin umzuziehn / “, dichtete Joachim Ringelnatz im Jahr 1930, „Wie das lockt!! – Ich, verdumpft, / Ich, verstockt und verstumpft, / Habe endlich mich auf den Kopf gestellt.“

1930 war das Jahr, in dem der 47-jährige Ringelnatz München verließ und in die Hauptstadt des Deutschen Reiches zog. Schon im November 1929 hatte er eine Wohnung gemietet – „eine helle und moderne Atelier-Wohnung im vierten Stock am Sachsenplatz 12 in Berlin-Neuwestend mit einem freien Blick ins Grüne“, wie sein Biograf Herbert Günther schreibt. Nicht weit vom Sachsenplatz (dem heutigen Brixplatz) entfernt liegt Ringelnatz auch begraben, auf dem Waldfriedhof an der Heerstraße. Am 17. November 1934, erst 51 Jahre alt, erlag er, verarmt und von den Nazis an den Rand gedrängt, einem Tuberkuloseleiden.
Viereinhalb Jahre lebte er also in Berlin – eine lange Zeit für einen so unsteten Geist wie Ringelnatz. Sein Leben böte Stoff für gleich mehrere Abenteuerromane: Geboren 1883 als Hans Bötticher im sächsischen Wurzen, aufgewachsen in Leipzig als Sohn wohlhabender, künstlerisch ambitionierter Eltern, verlässt er das Gymnasium ohne Abitur, um als Schiffsjunge auf einem Segelschiff anzuheuern. Dann absolviert er eine kaufmännische Lehre und nimmt verschiedene Büroanstellungen an, ist dazwischen aber immer wieder unter härtesten Bedingungen als Matrose auf Handelsschiffen unterwegs. 1909 treffen wir ihn in München, wo er sich als Inhaber eines Tabakladens versucht und im legendären Künstlerlokal „Simplicissimus“ in Schwabing seine ersten Auftritte hat. Später Bibliothekar, Fremdenführer, Kommandant eines Minensuchbootes, Schüler einer Gartenbauschule, Archivangestellter – und immer Dichter und (was weniger bekannt ist) Maler.

Berühmt und beliebt bis heute ist Ringelnatz als Erfinder des Matrosen Kuttel Daddeldu und als Schöpfer liebevoller Nonsense-Gedichte – man denke an die Ameisen, die von Hamburg nach Australien reisen wollen, oder die Liebesleiden eines männlichen Briefmarks. Was dem heutigen Leser allerdings zwangsläufig entgeht, ist das Erlebnis seines Vortrags. Denn Joachim Ringelnatz, wie sich Hans Bötticher seit 1919 nannte, war kein Poet, der sich im stillen Kämmerlein versteckte, sondern ein begnadeter Schauspieler, der vor Publikum zu Höchstform auflief. Heute wäre er wohl ein Star der Lesebühnen, von denen es gerade in Berlin so viele gibt; damals waren seine Podien beispielsweise der schon erwähnte „Simplicissimus“ sowie in Berlin das „Schall und Rauch“ und andere Kleinkunstbühnen. Seine Auftritte müssen unvergesslich gewesen sein. Enthusiastisch berichtete zum Beispiel der Schriftsteller Hans Siemsen in der B.Z. am Mittag: „Jeden Abend so um halb elf begibt sich in dem kleinen Kabarett in der Nähe der Gedächtniskirche ein Wunder. Jeden Abend so um halb elf kann man da, von der Straße kommend, ein Wunder erleben, sehen und hören, die allerseltenste und allerkostbarste Spezies der Gattung Mensch: einen Dichter, einen ganz großen Dichter.“

Berlin war nicht nur Bühne für Ringelnatz, sondern auch literarischer Gegenstand. Schon 1924 veröffentlichte er das Buch „...liner Roma...“. Der rätselhafte Titel steht für „Berliner Romane“ und soll das Fragmentarische der durch Nachkriegsunruhen und Inflation gebeutelten Stadt abbilden. Ringelnatz porträtiert darin lebenshungrige Menschen in einer sich am Abgrund vergnügenden Metropole („Man gerät nach Polizeistunde in verbotene Bars, die nur eingeweihten Gentlemännern sich nach Geheimsignal auftun und wo tanzende Nacktissen, siedende Musik einem unvermerkt teuren schlechten Sekt einflößen“). Auch vom „schmarotzenden Straßenvolk“ erzählt Ringelnatz: „Die Luft trägt ihre Gesänge wie lampiongeschmückte Ruderbarken dahin. Sie fiedeln, leiern oder würgen die Ziehharmonika; singen schöngeistig oder kläglich oder idiotisch.“ Klingt das nicht, als ob Ringelnatz gerade eine Fahrt in einer U-Bahn des Jahres 2009 mit ihren zahlreichen mehr oder weniger begabten Musikanten hinter sich hätte?

Neu veröffentlicht ist „...liner Roma...“ im Band „Nach Berlin, nach Berlin, nach Berlin!“, den der Ringelnatz-Forscher Frank Möbus jetzt im Verlag Berlin-Brandenburg herausgegeben hat. Darin finden sich auch zahlreiche Gedichte aus der Berliner Zeit des Dichters, die sich durch ihre oft düstere Tonlage von vielen seiner bekannteren Poeme abheben, aber auch unbeschwerte Alltagsmomente einfangen: „Unter den Linden, vom Pariser Platz / An, unter und neben den kleinen Linden, / Kann jedes Mädchen einen Schatz/ Ganz leicht finden.“
Nicht selten gelingt es Ringelnatz, in wenigen Zeilen das typische Großstadtgefühl einzufangen – etwa im Gedicht „Schweigende Fahrgäste“: „Die Fremden, mit denen ich fahre, / Gezwungen einander gesellt –: / Aus jedem Augenpaare / Träumt eine andere Welt. // Doch wie ich mich allen verbinde / In schweigender Rätselei, / Irr ich vielleicht. Doch ich finde: / Man wird versöhnend dabei.“
In Berlin musste Ringelnatz auch das Ende seiner Karriere erleben. Die Nazis erteilten ihm Auftritts- und Veröffentlichungsverbot; er geriet in materielle Not und erkrankte auch noch an Tuberkulose. Am 17. November 1934 starb er in seiner Wohnung am Sachsenplatz. Auf seiner Beerdigung rezitierte der Schauspieler Paul Wegener Verse aus seinem Gedicht „An M.“ – an Muschelkalk nämlich, wie der Dichter seine Frau Leonharda nannte: „Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern. / Meine Liebe wird mich überdauern / Und in fremden Kleidern dir begegnen / Und dich segnen.“

Emil Schweizer

 

 

Buchtipp
Joachim Ringelnatz:
Nach Berlin, nach Berlin, nach Berlin!
Herausgegeben von Frank Möbus,
Verlag für Berlin-Brandenburg.
Euro 19,90

40 - Herbst 2009