Wenn plötzlich ein Ozeandampfer auf der Straße steht

Geschichten von Bildern an Häuserwänden. Wenn’s in Berlin grünt und blüht kommen die Künstler mit ihren Utensilien und verleihen der Stadt zusätzliche Farbtupfer. Nicht klein, klein – sondern Häuserwände groß. Ihnen dabei immer auf den Fersen Norbert Martins, seit 1975 ihr Chronist. Martins ist 67 Jahre, von Beruf Elektroniker, 31 Jahre beim Berliner Stromversorger Bewag und jetzt im Ruhestand.  Mit Ben Wagins „Weltbaum 1 – Grün ist das Leben“ Bachstraße, Ecke Siegmundshof hat Martins seine Dokumentation begonnen. Der Berliner Aktionskünstler hat bereits vor Jahrzehnten mit spektakulären Baumpflanzaktionen weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Martins durchstreifte, nach weiteren Riesenbildern  suchend, die Stadt, denn einen Plan für diese öffentliche Galerie gab es weder damals noch heute. Man wird von den Bildern überrascht. Manchmal derart, dass Autofahrer reihenweise Verkehrsschilder anfahren, weil plötzlich ein Ozeanriese auf sie zudampft. Gert Neuhaus, einer der produktivsten Illusionsmaler hat diesen Dampfer in die Wintersteinstraße fahren lassen. Ähnliches kann einem auch passieren, wenn man plötzlich in einem Neubaugebiet Fassaden aus der Gründerzeit entdeckt – und dann schauen da auch noch Leute aus dem Fenster, spaziert eine Katze auf dem Fenstersims. Hoffentlich fällt sie nicht runter, hofft man unwillkürlich. Martins ist überzeugt, dass solche Fassaden dem Lebensgefühl der Bewohner einen positiven Touch geben. Mittlerweile kennt er sich gut aus in der Szene, spricht mit den Künstlern, Auftraggebern und Bewohnern.

„Schau mal, dort bei den Geranien, wohne ich. Und die muss ich nicht mal gießen“, schnappte Martins eine Reaktion bei der Einweihung der neuen Neubau-Außenhaut auf. So kann er viele Geschichten über die Bilder erzählen, ihre Entstehung, die er dokumentiert und fotografiert. 1978 entstand das Wandbild „Nicaragua“. Eine Arbeit ganz im Sinne der farbigen, politischen Wandmalerei von Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros, die diese Bildsprache in den 1920er Jahren in Mexiko begründeten. „Nicaragua“ ist auf den ersten, weiten Blick eine sehr fröhliche Dorfszene, erst beim näheren Betrachten sieht man, wie Soldaten dieses Dorf zerstören. Eine der wenigen Arbeiten, die, wie die von Ben Wagin, mehr als dekorative Bedeutung haben. Doch so ein Wandbild ist nichts für die Ewigkeit. 15 Jahre höchstens gibt man so einem Werk. Das Wetter setzt ihm zu, manchmal wird es einfach abgerissen oder ein neues Haus wird davor gesetzt. „Nicaragua“ hielt länger durch und wurde 2005 sogar restauriert. Aber Putz und Farbe vertrugen sich nicht, so dass es nach fünf Jahren schon teilweise wieder abfiel – in diesem Jahr wurde das Bild abgeschlagen. Eine pikante Vorgeschichte hat ein Bild in Kreuzberg. Zunächst wohnten hier Hausbesetzer, dann kaufte ein Motorradclub die Immobilien – und der wollte es außen schön haben: Ein nacktes Mädel auf einer Harley! Oh, meinten die ausführenden Künstler im Sinne der Allgemeinheit des Jahres 1985, das geht nicht. Sie ließen den Rocker allein auf seiner Maschine hocken.

Insgesamt hat Martins 700 Bilder, auch solche, die es nicht mehr gibt, in zwei Büchern festgehalten. Da sind traditionelle Malereien, solche, die Illusionen vorgaukeln, Graffitikunst und welche mit plastischen Elementen. Er begann im Westteil der Stadt, und nach 1989 konnte er sein Hobby auf den Ostteil ausdehnen. Im Osten waren drei Prozent der Bausumme für Kunst an öffentlichen Gebäuden vorgesehen. Eine Fundgrube, wie er sagt, und kaum propagandistische Bilder, wie er erwartet hatte. Aber der Teufel lag im Detail. „Die Elefantenherde“ am Berliner Tierpark hat eine anekdotische Vorgeschichte. Dem Künstler wurde zwar freie Hand gelassen, aber auf keinen Fall sollten Kamele auf dem Bild sein – weil sich auf den gegenüberliegenden Seite ein Büro der SED befand. Heute ist das Bild, weil eine Baulücke geschlossen wurde, durch andere Häuser verdeckt. Aber in der Nähe gibt es ein neues Elefantenbild, dass an das ursprüngliche erinnert. Nach 1989 schlief die Wandmalerei ein. Kein Geld, kein Interesse. Aber seit zwei, drei Jahren boomt diese Kunst regelrecht, sagt Martins. Finanziert werden die Projekte heute von den Wohnungsbaugesellschaften. In der Köpenicker Straße wurden jüngst „Zwei Hände“ an die Wand gemalt. In Lichtenberg ist letztes Jahre auf einer Fläche von 22 000 Quadratmetern an einem Plattenbau das größte Wandbild der Welt entstanden. In Spandau sollen 20 Wände bemalt werden. Das ist schön für die Stadt und wertet das Wohnumfeld auf. Der Chronist, der sich eigens für sein Hobby einen Motorroller angeschafft hat, damit er überall gut parken kann, hat viel zu tun.

Martina Krüger

 

Information

„Hauswände statt Leinwände – Berliner Wandbilder“.
Auf 144 Seiten und rund 300 Fotos ist die Vielfalt der Berliner Wandbilder festgehalten.
Das Buch ist für den Preis von 29,90 Euro im Buchhandel zu erwerben. 
ISBN 978-3-00-038596-4
www.norbert-martins-wandbilder-berlin.de

 

 

 

 

59 - Sommer 2014
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