Kühne Bauideen im Martin-Gropius-Bau

Der Martin-Gropius-Bau zeigt Architekturentwürfe aus den legendären Moskauer Wchutemas, einst bedeutende Kunstschule und Geburtsort der russischen Avantgarde.

Bevor der Sozialistische Klassizismus – auch „Stalinscher Zuckerbäckerstil“ genannt – in den 1930er-Jahren endgültig die Architektur in der Sowjet-union beherrschte, gab es ein Jahrzehnt, in dem alles möglich schien, eine Aufbruchszeit nach Revolution und Bürgerkrieg, in der Künstler und Architekten der Sowjetunion zur europäischen Kunstavantgarde gehörten. Zwischen 1920 und 1930 ist es vor allem die Moskauer Kunstschule Wchutemas, ein Abkürzungskonstrukt, übersetzt mit höhere künstlerisch-technische Werkstätten, die mit ihrem revolutionären Bildungskonzept zeitweise solch große Popularität genoss, dass ähnliche Institute auch in anderen Städten der Sowjetunion gegründet wurden. Doch die künstlerische Ausrichtung an den Wchutemas war von Beginn an von staatlicher Seite aus, aber auch unter Lehrern und Studenten, umstritten, sodass ständige Auseinandersetzungen um die „Kunst der neuen Zeit“ zum Lehralltag gehörten. Avantgardistische Künstler und Architekten für die Revolution zu gewinnen, hatte sich unter der offiziell angeordneten Maßgabe, auch mit Hilfe der Kunst den „Neuen Menschen“ zu formen, ohnehin als schwierig erwiesen. Dennoch entwickelten sich die Wchutemas nach ihrer Gründung 1920 mit anfangs rund zweitausend Studenten pro Jahrgang zu einem bedeutenden Standort der europäischen Avantgarde, mit Ausstrahlung weit über Sowjetrussland hinaus bis nach New York.

Zu seinen berühmtesten Lehrern gehörten El Lissitzky, Naum Gabo, Moisey Ginsburg, Wassily Kandinsky, Alexander Melnikow und Alexander Rodtschenko. Ähnlich wie am Bauhaus in Weimar und später in Dessau, umfasste das mehrjährige Studium alle handwerklichen Künste mit dem Schwerpunkt Architektur, der ab 1927 eine Schlüsselrolle zukam. Aufgrund großer Bauaufgaben gestand man nur ihr zu, neue künstlerische Ideen adäquat ausdrücken zu können, Rationalismus und Zweckmäßigkeit zu befördern und soziale Wirkungen zu erzielen. Ein Vorzeigeprojekt sollte beispielsweise das „Rote Stadion“ werden, eine raumgreifende Anlage für Sport, Agitation und Unterhaltung. Entwurf und Modell wurden ob ihrer außergewöhnlichen Gestaltung 1925 auf der Internationalen Kunstausstellung in Paris mit dem Grand Prix als innovativstes Architekturprojekt ausgezeichnet, ebenso das revolutionäre Bildungskonzept der Moskauer Kunstschule. 

Etwa 250 Architekturentwürfe und Arbeiten aus der Zeit der Wchutemas zeigt der Martin-Gropius-Bau gemeinsam mit dem Staatlichen Schtschussew Museum für Architektur Moskau. Noch heute beeindrucken die zum Teil kühnen Bauideen und Studienprojekte. Erst in den letzten Jahren wurde die Ausstellung zusammengestellt, gespeist aus den Archiven der Nachfolgeinstitute und persönlichen Sammlungen von Architekten, die an den Wchutemas einst studierten. Zur Auflösung der Kunstschule, ab 1927 als Institut und danach als Hochschule geführt, kam es schließlich 1930 wegen unüberbrückbarer Gegensätze zwischen den Vertretern des Konstruktivismus und der sogenannten Produktionskunst. Nach 1945 setzte sich diese Auseinandersetzung auch in den anderen kommunistisch regierten Ländern als „Formalismusdebatte“ fort. 

Es versteht sich fast von selbst, dass die Lehrenden und Studenten der Wchutemas damals auch am Bauhaus interessiert waren, denn dort existierten ähnliche künstlerische und theoretische Ansätze. Studentendelegationen besuchten sich gegenseitig und etwa vierzig Bauhäusler lebten und arbeiteten in der Sowjetunion, bis in die 1930er-Jahre hinein. 

Die nachfolgenden totalitären Regime, in Sowjetrussland der Stalinismus, in Deutschland ab 1933 der Faschismus, setzten schließlich die Werke der internationalen Avantgardekunst auf den Index und verfolgten deren Künstler. Angesichts der beeindruckenden Ausstellung im Martin-Gropius-Bau stellt sich die Frage nach Erbe und Pflege der Avantgarde-Architektur im heutigen Russland. Schade, dass in der Ausstellungskonzeption dafür kein Platz war.

Reinhard Wahren 

 

Ausstellung

WChUTEMAS –
Ein russisches Labor der Moderne
Architekturentwürfe 1920–1930
Bis 6. April 2014
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin

 

61 - Winter 2015