Hinjeschaut!

Doppelausstellung zum 150. Geburtstag des Berliner Malers Heinrich Zille (1858–1929).

Zille? Ach ja, das sind die rundförmigen, drallderben Weiber mit schreiendem Gör auf dem Arm, die in beinlangen Streifenbadezügen auf den Bildern vom Strandbad Wannsee zu erleben sind. Schaurig-schön. Der (abgewandelte) Satz: „Mein letzter Wille ist ein Bild von Zille“ signalisierte die ästhetische Ablehnung des Humorig-Derbschönen, das sich mit den Bildern des berühmten Zeichners Heinrich Zille verband. Zille, das waren die Leidenschaft einer anderen Generation und ein Kunstsinn, der die Satire und die Straße, den Zirkus und die Kneipe, Berlin zwischen Wedding und Charlottenburg liebt. Aber immerhin, ist doch viel zu sehen auf den Bildern! So viel Milljöh war nie zuvor! Die kleine Gemeinde der Nicht-Zille-Anhänger steht einer weitaus größeren und sehr heterogenen Liebhabergruppe leidenschaftlicher Zille-Verehrer gegenüber.
Im Januar wurde dem Künstler und einstigen Akademiemitglied, der ein überbordendes zeichnerisches, druckgrafisches und fotografisches Gesamtwerk geschaffen hatte, aus Anlass seines 150. Geburtstages eine große Retrospektive eingerichtet. Der Berliner Künstler wird mit einer Doppelausstellung in der Akademie der Künste und im Ephraim-Palais geehrt. Weg mit den Klischees, den Vorurteilen, den einseitigen Betrachtungen Heinrich Zilles als satirisch-sentimentalem Milieumaler! Den Verehrern des Künstlers wie allen lernwilligen Bildbetrachtern wird ein breites Œuvre und differenziertes Zillebild vorgezeigt, das neben den vielfach reproduzierten witzigen Illustrationen, engagierte Zeichnungen, illustrierte Presse, Druckgrafik, erotische Blätter, erstaunliche Schwarz-Weiß-Fotografien zeigt.

Zille war ein Unikat mit unverwechselbarem Blick auf das Leben der unterprivilegierten Menschen der Großstadt. Seine Sympathie und sein künstlerisches Engagement galten den Mietskasernenbewohnern der Gründerzeit. Sein enthusiastisches und originelles Schaffen fand Anerkennung bei Künstlern wie Max Liebermann oder Käthe Kollwitz. Ein später Freund war Otto Nagel. Heinrich Zille, dessen Realitätssinn sich mit unnachahmbarem Bild- und Wortwitz verband, gilt als Berliner Instanz wie etwa Toulouse-Lautrec in Paris und Hogarth in London. Bereits als Schüler nahm er privaten Zeichenunterricht. Nichts – so entnimmt man den biografischen Notizen und Dokumenten der Ausstellung – konnte den aus ärmlichen Verhältnissen kommenden Zille von seinem Vorhaben, Künstler zu werden, abhalten.

Der Titel der Jubiläumsschau „Heinrich Zille. Kinder der Straße“ nimmt Bezug auf die erste Buchveröffentlichung des Künstlers 1908. Damit sei zugleich die Aufmerksamkeit auf den sozialkritischen Kern des Zille‘schen Werks gelenkt, auf seine „soziale Empathie“, die aus den Arbeiten ebenso abzulesen ist, wie sein pragmatischer Enthusiasmus – „ick helfe lieber een hungriget Maul glech zu füttern, als mit Versprechungen“ – berühmt wurde. Wo ist Zille heute, könnte metaphorisch gefragt werden, da  genau einhundert Jahre später erneut Arbeitslosigkeit, Kinderarmut zunehmend  zum Metropolenalltag gehören?
Zille selbst ist ein Mann der Straße insofern, als er genau dort seine Motive findet, die Menschen, deren Leben er auf seinen Skizzenblättern mit leichten, meist welligen Linien fixiert. Schwarz-Weiß, mal ein Rot, ein Hauch Blau. Man könnte sein Werk als ein sehr spezielles Berlin-Tagebuch betrachten, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen wurde. Bereits zu seinem siebzigsten Geburtstag gab es für den Künstler, der auf Vorschlag Max Liebermanns erst Teilhaber der Sezession, dann ab 1924 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste war, eine spektakuläre Geburtstagsausstellung: Mit Polizeiaufgebot, um ein nie erlebtes Besucherinteresse regulieren zu können. Die halbe Stadt war gekommen, um den Zille, den Pinselheinrich, den Professor oder – wie auch gesagt wurde – Vater Zille zu sehen. Seine Popularität war vor allem auf die Veröffentlichungen von Illustrationen in Zeitschriften wie „Simplicissimus“ oder „Ulk“ zurückzuführen, die den Künstler einem Massenpublikum vorstellten und seine Bildgeschichten zu lebenserheiternden Begleitern werden ließ.
Sein letzter Wille ist ein Bild von Zille. Aber ja! Allein schon die Fotografien! Wer angeregt von der Retrospektive auf Zille-Suche durch die Stadt streift, kann in der Galerie Leo.Coppi vorbeischauen und nach Zeichnung oder Grafik fragen. Parallel zur großen Schau wurde hier eine feine Ausstellung „Heinrich Zille und Konrad Knebel“ arrangiert.

Anita Wünschmann

 

 

Ausstellung

Heinrich Zille / Kinder der Straße

Bis 24. März 2008

Akademie der Künste
Pariser Platz 4, Berlin-Mitte
Di bis So 11–20 Uhr

www.adk.de/zille

 

34 - Frühjahr 2008