Vom Kopf auf die Füße auf den Kopf

Ich bin nicht mehr da! Das war der alarmierende Satz, mit dem sich der international berühmte Maler Baselitz nach eigenem Bekenntnis wachrüttelte. Es war, so befand er, höchste Zeit, sich neu zu erfinden und in die Debatte zur Gegenwartskunst zurück zu katapultieren. Schnell wollte er malen. Und leicht. Korrekturen zu Vorhandenem setzen. So entstanden die neuen Remix-Bilder, die bereits 2006 in der Pinakothek der Moderne in München gezeigt wurden. Zurückschauen, um sich wieder zu entdecken, mit einem großen Sprung nach vorn. Da ist er. Gerade siebzig geworden! Der prominente Wahlbayer mit Wohnsitz am Ammersee lud zum großen Künstlerfest nach Berlin.

„Ich wollte also wissen, ob es mich noch gibt“, sagt der für Provokationen und künstlerische Unabhängigkeit zwischen Abstraktion und expressionistischer Figuration bekannte Künstler, dessen Werke sich eines stetig wachsenden Marktwerts erfreuen. Allein 2006 wurden frühe Gemälde für eineinhalb Millionen Euro bei Christie‘s versteigert. Dennoch ließ sich die Frage nach einem Alterswerk nicht umgehen. Der groß gewachsene, schlanke Mann im eleganten Grauschwarz spricht gern über seine Kunst. Es geht dabei um Vergangenheit, seine Helden, Couleurs, die sich gewandelt haben, die Schuld der Väter, Hitler und das große Schweigen danach. Sein Œuvre, welches neben der Malerei Grafik, Zeichnungen und Holzbildhauerei umfasst, ist überaus opulent und ein regelrechtes Kompendium an kunstgeschichtlichen Querbezügen. Mit den existentialistisch inspirierten dreist-obszönen Werken der frühen sechziger Jahre begann die Karriere. Dann folgten Waldarbeiter und andere mystisch wirkende Heroen, Körperteile – wunde Füße vor allem, die Streifenbilder, schließlich die Kopfstandbilder, auch Malerei mit und ohne Ornament, die fast an Chagall erinnern, und schließlich der Remix aus dem Vorgefundenen. Baselitz ist ein Malerberserker, wie manche sagen. Die Hundebilder mit Sigmund-Freud-Hinweis sind schon vorbei, die eigene Familie mit und ohne Otto-Dix-Bezug ist komplett kopfüber ins Bild gesetzt. Die Serie von Frauenköpfen „1945“ vor einem gitterhaften Schwarz-Grau-Grund bilden ein Totenbuch. Nun greift er seit einigen Jahren alte Themen wieder auf. Nochmals wurden Künstlerväter wie die Dresdner Expressionisten zum Abendmahl versammelt – kopfüber zu Tisch, aber mit Cowboystiefeln und schön leicht blau. Dann hat er den Mann mit dem einprägsamen Oberlippenbärtchen („Drei Streifen Mantel“) 2007 als Remix in flirrenden Linien auf eine raumlose weiße Leinwand gesetzt, dreigeteilt: Alles ist vertauschbar. Der Maler als Expressionist, die Abstraktion als ästhetische Strategie und die Ikonographie des zwanzigsten Jahrhunderts – das sind etwa die Versatzstücke, die Georg Baselitz immer wieder hinterfragt und komponiert. „Wir sind Maler mit einem schwerwiegenden Generationskonflikt, mit belasteten Vätern“, erklärt er. „Die Jungen sind viel fröhlicher. Diese Leichtigkeit haben wir nicht.“

Georg Baselitz wurde im oberlausitzischen Deutschbaselitz mit dem Namen Hans-Georg Kern geboren. Nach dem Abitur begann er in Berlin-Weißensee Kunst zu studieren. Er wird wegen „gesellschaftlicher Unreife“ hinausgeworfen, wechselt 1958 von Ost nach West und nimmt mit Bezug auf seinen Geburtsort 1961 den Namen Baselitz an. Bereits mit seinen Pandämoniums-Manifesten (1961/62), die gemeinsam mit dem Künstler Eugen Schönebeck – auch er aus Sachsen – entstanden sind, nahm er Kurs auf eine vehemente Form künstlerisch-gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Dann folgt 1963 „Die lange Nacht im Eimer“. Der onanierende Junge ist sein längst omnipräsentes Deutschlandbild für die Hitlerjugendgeneration, das 1963, bei „Werner und Katz“ in Berlin ausgestellt, für einen handfesten Skandal mit Bildbeschlagnahmung sorgte. Die Farbe fett und trübe. Schlammfarben, Ockeroliv mit Altrosa und Graubeige. Im Remix-Gemälde „Der Adler“ malt er den stürzenden Vogel zum zweiten Mal vor verführerisch schönem, marienblauem Himmelsgrund. So entstand eine irritierende Harmonie von Romantik und Verderben, im wahrsten Sinne doppeldeutig. Dreht man nämlich das Bild um, fällt der Adler nicht, sondern schlägt die Flügel zum Greifflug. Baselitz setzt Signale. Dazu gehört auch der deutsche Wald auf dem Kopf! Die seit 1969 gemalten Kopf stehenden Motive, die beim Museumspublikum immer wieder zu allerhand Körperverrenkungen führen, machten den Künstler international berühmt. Und wenn einer der großen Maler, der Unermüdlichen, einen Jubiläumsgeburtstag hat, dann stehen nicht allein mehr die Motive Kopf, sondern vor allem der Kunstbetrieb. Vom Museum Albertina Wien bis London. Im Herbst des vergangenen Jahres – und das war das Baselitz-Großereignis – gab es die Retrospektive in der Londoner Royal Academy of Arts. Nur einmal zuvor wurde in den ehrwürdigen Hallen der Kunst eine solche Überblicksschau für einen lebenden Maler eingerichtet. Die Hamburger Deichtorhallen inszenierten labyrinthisch die Russenbilder. In Berlin sorgte u.a. die Galerie CFA für einen Baselitz-Remix-Auftritt als Doppelausstellung mit Jungstar Jonathan Meese. Der eine wurde siebzig, der andere ist Jahrgang siebzig. Das Dresdner Kupferstichkabinett zeigt Kaltnadelradierungen und Lithographien.

Der Galerist und Baselitz-Förderer Michael Werner (New York, Berlin) erinnerte – ganz Understatement – mit einem geburtstagspünktlichen Artnet-Eintrag des Gemäldes „Hasenkreuz“ (2001) daran, dass Georg Baselitz einer seiner Hausstars war.

Anita Wünschmann

 

 

Ausstellung

Sechs neue Baselitz-Gemälde im Dialog mit Emilio Vedova
Bis 20. April 2008 in der Berlinischen Galerie,
Alte Jakobstraße 124–128. Mi bis Mo 10–18 Uhr

Baselitz-Graphiken aus der Sammlung von Herzog Franz von Bayern
Bis 25. August 2008 im Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
 

34 - Frühjahr 2008