Ein Stück Europa

Noch herrscht in der Gegend um Berlins Hauptbahnhof städtebauliche Einöde. Doch das soll sich in den nächsten Jahren ändern. Im Sommer haben die Bauarbeiten für die künftige Europacity begonnen.

„Dieser Neubau ist der fulminante Auftakt für die Entwicklung des neuen Quartiers Europacity“, sagt Berlins Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. Bis zum dritten Quartal des Jahres 2012 errichtet das Immobilienunternehmen Vivico einen 69 Meter hohen Turm, den das Architekturbüro Barkow Leibinger entworfen hat und in dem nach seiner Fertigstellung rund tausend Mitarbeiter des französischen Mineralölkonzerns Total arbeiten werden, in der künftigen Europacity. Unter diesem Namen entwickelt die Vivico das frühere Quartier Heidestraße. Auf dem 40 Hektar großen Areal zwischen dem Hauptbahnhof im Süden, der Bahntrasse im Westen, der Perleberger Brücke im Norden und dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal im Osten soll in den nächsten zehn bis 15 Jahren ein riesiges neues Viertel entstehen. Eine Bruttogeschossfläche von nicht weniger als 600 000 Quadratmetern sieht der Masterplan vor, den der Berliner Senat und das Bezirksamt Mitte 2009 beschlossen haben. Maximal die Hälfte davon ist für Wohnungen vorgesehen, der Rest für Büros, Läden, Restaurants und Kultureinrichtungen. Das bedeutet, dass eines Tages auf dem jetzt noch weitgehend brachliegenden Gelände mehr als 2 000 Menschen wohnen und etwa 12 000 arbeiten werden.
Dass es mitten in der Stadt so viel Platz für Neubauten gibt, ist typisch für Berlin mit seiner wechselvollen Geschichte. Im 18. und 19. Jahrhundert war das Gebiet beidseits der Heidestraße, damals noch außerhalb der Stadt gelegen, militärisches Exerzierfeld. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts dann setzte eine Entwicklung ein, die das Areal bis heute prägt: Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné legten den Humboldthafen, den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal und den Nordhafen an. 1848 wurde der Hamburger Bahnhof in Betrieb genommen, 1868 der Lehrter Bahnhof; das nördlich anschließende Areal diente zunächst als Güter- und dann als Containerbahnhof. Erst vor wenigen Jahren wurde dieser aufgehoben – und damit der Weg frei gemacht für eine neue Nutzung des Geländes, das zu Zeiten der deutschen Teilung im Schatten der Mauer lag, danach aber ins Zentrum der deutschen Hauptstadt rückte.
Wer heute mit offenen Augen über das Gelände streift, entdeckt eine für Berlin typische Mischung aus alt und neu, aus kiezbezogen und weltoffen, aus Kultur und Kommerz. In den Güterschuppen zwischen Heidestraße und Kanal haben sich Gewerbetreibende wie „Heide Food Gastronomiebedarf“ und ein Gebrauchtwagenhändler eingerichtet, der mit dem Slogan „Bayrischer Autohandel in Berlin“ für sich wirbt. Gleich daneben aber befindet sich mit dem Tape Club einer der angesagtesten Clubs der Stadt, und direkt am Ufer des Kanals haben die Betreiber des Rodeo-Clubs aus Mitte in diesem Sommer das „Ressort“ eröffnet, ein Openair-Grillrestaurant der edleren Sorte.
Vor allem aber ist die Heidestraße zu einem der wichtigsten Kunststandorte der Hauptstadt geworden. Ausgangspunkt waren das Museum für Gegenwart im Hamburger Bahnhof und die mit ihm verbundene Rieck-Halle mit der Flick-Collection. Dann folgte direkt daneben die Halle am Wasser, in der sich sechs Galerien und Kuratorenbüros eingemietet haben. Mittlerweile hat sich auch auf der westlichen Straßenseite, im verwinkelten Gewerbehof Heidestraße 48-52, ein Kulturstandort entwickelt, wo sich nicht nur diverse Galerien, sondern auch führende Architekturbüros wie Graft und Kuehn Malvezzi eingerichtet haben – in friedlicher Koexistenz mit einem Kfz-Meisterbetrieb und einem Baumaschinenverleih.
Kunst verstehen die Projektentwickler der Vivico dabei nicht als Zwischennutzung, sondern als wichtigen Bestandteil des neuen Quartiers. Dieses wird laut Masterplan aus sechs Teilbereichen bestehen. Einer davon ist der Kunst-Campus, wo sich langfristig die Kultur etablieren soll, während rund um den „Tour Total“ ein Büroschwerpunkt geplant ist. Büros und Dienstleistungen werden auch im Norden des Areals, also am Nordhafen, Platz finden – ebenso wie beidseits der Heidestraße, die zu einem vierspurigen, 38 Meter breiten Boulevard ausgebaut werden soll. Für die Wohnhäuser dagegen ist das Gebiet am Kanal reserviert. Besonders attraktiv dürften die Wohnungen am neuen Stadthafen sein, den der städtebauliche Entwurf der Architekturbüros KCAP/Astoc und Studio Urban Catalyst vorsieht.
Bei der ganzen Planung verfolgen die Grundstückseigentümer neben der Vivico sind das die Deutsche Bahn und das Land Berlin das Ziel eines nachhaltigen Quartiers. Dieses Modewort wollen sie mit konkretem Inhalt füllen: Eine eigens durchgeführte Nachhaltigkeitswerkstatt entwickelte Ideen für ein umfassendes „Konzept ganzheitlicher und nachhaltiger Urbanität“, wie es der Berliner Vivico-Chef Henrik Thomsen formuliert. „Das reicht vom Ressourcen schonenden Abtransport der Rückbaumaterialien mit Schiffen über den Einsatz von Recycling-Pflastersteinen bis hin zu einer zentralen Kiez-Agentur.“
Dennoch ist noch lange nicht sicher, ob sich alle Pläne in die Realität umsetzen lassen. Von entscheidender Bedeutung wird sein, ob es der Vivico gelingt, Investoren für die einzelnen Teilbereiche zu finden. Berlins Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer ist zuversichtlich: „In umittelbarer Nähe zu Regierungsviertel und Hauptbahnhof“, sagt sie, „entsteht ein herausragendes Berliner Quartier, das Investoren anziehen wird.“

Emil Schweizer

44 - Herbst 2010
Stadt