Streitfall A 100

Berlin hatte früher – und hat längst wieder – eine Ringbahn. Sie fährt rund um die Stadt, verbindet Ost und West, Nord und Süd und ist für den innerstädtischen Personenverkehr von enormer Bedeutung. Denn vom geschlossenen S-Bahnring aus ist jedes einzelne Stadtgebiet gut zu erreichen.
Berlin hat auch eine Stadtautobahn, die A 100. Sie ist ebenso wichtig, denn sie kanalisiert und entlastet den innerstädtischen Autoverkehr. Weil sie aber ein West-Berliner Produkt ist, existiert kein Autobahnring: Der Osten der Stadt ist weitgehend ausge-spart. Vor allem für die dort ansässigen Industrie- und Gewerbebetriebe zweifellos ein Nachteil, bringt doch die Nähe zu einem Autobahnanschluss und letztlich auch zum neuen Flughafen BBI erhebliche Vorteile, ganz abgesehen von der Entlastung des innerstädtischen Autoverkehrs.
So war es nicht verwunderlich, dass der Weiterbau der A 100 vom Dreieck Neukölln zum Treptower Park schließlich als Konjunkturpaket im Rahmen der Entwicklung der Berliner Infrastruktur auf die politische Entscheidungsebene gelangte. Dort kam es 2006 in der Koalitionsvereinbarung mit der Linkspartei zum Beschluss, den Weiterbau zu befürworten. Dass daraus in den Folgejahren ein Streitobjekt wurde, lag einerseits an den Gegnern der Autobahn, andererseits an Kontroversen innerhalb der SPD. Die Bürgerinitiative Stadtring Süd beispielsweise befürchtet Dauerstaus am Treptower Park, sieht Neukölln im Abgasnebel, beklagt die Vernichtung von Gewerbeflächen und Kleingärten und verweist auf die immensen Kos-ten von rund 420 Millionen Euro. In der SPD andererseits sind die Meinungen bis heute geteilt. Entgegen der Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 2006 kam denn auch noch vor einem Jahr aus deren Reihen ein Nein, worauf auf dem Parteitag in diesem Jahr die erneute Zustimmung folgte, wenn auch mit knapper Mehrheit. Für die Gegner der Trasse ist das Projekt schlicht „rückwärtsgewandt und unökologisch“. Auch aus den Reihen der Linken ist nach wie vor Skepsis zu hören, und der Wirtschaftssenator würde eine „Stadtstraßenlösung“ bevorzugen, was auch immer damit gemeint ist. Ein eindeutiges Ja zum neuen Autobahnstück kommt freilich aus Berliner Wirtschaftskreisen. „Die Entscheidung für die A 100 reicht weit über das konkrete Bauprojekt hinaus. Es ist eine Entscheidung für die langfristige Entwicklung der Region“, so beispielsweise Axel Wunschel, Hauptgeschäftsführer des Bauindustrieverbandes Berlin-Brandenburg. Das Projekt habe die Dimensionen eines Konjunkturpakets, und die Baukosten trage ohnehin der Bund, die klamme Berliner Haushaltskasse müsse nicht dafür aufkommen. Für die Befürworter des neuen Teilstücks steht grundsätzlich der weitere Ausbau der Berliner Infrastruktur im Vordergrund. Abgesehen vom Nebeneffekt, damit hunderte Arbeitsplätze in der regionalen Bauwirtschaft zu schaffen. Hinzu kommt, dass die Berliner Wirtschaft mit Eröffnung des neuen Flughafens Berlin-Brandenburg starke Entwicklungsimpulse auch im Flughafenumfeld erwartet. Längst existiert dafür ein länderübergreifendes Strukturkonzept, das auch die angrenzenden Stadtbezirke und Kommunen mit einbezieht. Nicht zuletzt deshalb erscheint die Anbindung der Industriegebiete im einstigen Ost-Berlin an das überregionale Verkehrsnetz als folgerichtige Verkehrsmaßnahme.
Mit dem Bau des sechsspurigen Teilstücks soll nun im nächsten Jahr begonnen werden. Es führt vom Autobahndreieck Neukölln über die Grenzallee, Sonnenallee, Dieselstraße, Kiefholzstraße bis zur Elsenstraße / Am Treptower Park. Wer täglich zur Rushhour in der Grenzallee oder im Bereich Treptower Park unterwegs ist, begrüßt sicherlich ganz spontan die geplante Trasse. Falls im nächsten Jahr tatsächlich Baubeginn sein sollte, ist mit der Fertigstellung 2017 zu rechnen.

Reinhard Wahren
 

44 - Herbst 2010