Biotop Großstadt

Wanderfalken über Berlin-Mitte, Wildschweine auf dem Gehsteig, ein Fuchs im Wintergarten der Kanzlerin, ein anderer an der Bushaltestelle, Biber im Westhafen und brütende Stockenten im Blumenkasten auf dem Balkon – unglaubliche Fotos von Florian Möllers, eingefangen während jahrelangem Streifen in der freien Stadtwildbahn.

„Wilde Tiere in der Stadt. Inseln der Artenvielfalt“ ist mehr als ein Fotoband skurriler Schnappschüsse, ist eine Entdeckungsreise durch das Biotop Berlin und ein Plädoyer für den überlegten Umgang mit der Natur schon vor der Haustür, denn dort beginnt, traut man den Aufnahmen, ungeahnt wildes Leben. Möllers, Jahrgang 1971, ist nicht nur Naturfotograf, sondern auch Autor und Biologe. Heiklen Tier-Mensch-Beziehungen gilt seine Aufmerksamkeit. Möllers Botschaft: Jetzt aber raus und Augen auf! Großstadt heißt nicht Ende der Natur. Die Unwirtlichkeit der Städte ist also eine Lüge, sondern ganz im Gegenteil „ein Glücksumstand für Mensch und Natur“, so Prof. Dr. Josef Reichholf, Ökologe und Evolutionsbiologe aus München. Der junge Forschungsbereich Stadtökologie, bezeichnenderweise mit einer Arbeitsgruppe an der Freien Universität der damaligen Inselstadt Berlin rasch führend auf diesem Gebiet, befasst sich mit dem erstaunlichen Phänomen der urbanen Besiedelung durch Pflanzen und Tiere. Im ländlichen Raum schwindet die Artenvielfalt. Aber in den Städten sieht es anders aus, sie sind reich an Unterschlupf, Nahrung und Freiflächen. Und Berlin ganz besonders. Nur ein Viertel von 890 Quadratkilometern Stadtfläche ist bebaut. Der Waldanteil liegt bei 18 Prozent, weitere sechs Prozent entfallen auf Gewässer, nahezu 2500 Grünanlagen, Parks und Friedhöfe liegen innerhalb des Stadtgebietes.
Im ehemaligen Todestreifen gedieh lange Jahre ungestört Leben. Friedhöfe beherbergen Füchse und Dachse in stillen Ecken, über steinige Brachen huschen Zauneidechsen, Fledermäuse hängen kopfüber in der Zitadelle, Igel fühlen sich in der Laubenkolonie wohl und Waschbär „Alex“ in der Tiefgarage vom Park Inn Hotel am Alexanderplatz. Die Mauerkaninchen mussten zwar den Potsdamer Platz räumen, doch die finden selbst an einer Verkehrsinsel Gefallen. Auch Waldkauz, Habicht, Mäusebussard und Fasan wissen die wärmeren Temperaturen und üppige Futterlage zu schätzen und bewegen sich mit verblüffender Vertrautheit. Auf einem stillgelegten Bahngelände hat sich eine stabile Population mit mehr als 60 ausgewachsenen Exemplaren der Mantis religiosa, der Gottesanbeterin, angesiedelt. Die nächsten Vorkommen leben mehr als 500 Kilometer entfernt. Der Wanderfalke, vor dreißig Jahren in Deutschland fast ausgestorben, nistet in den Türmen der Marienkirche und des Roten Rathauses. Berliner Nachtigallen in Straßennähe 
singen lauter. Überraschende Entdeckung für Forscher, die davon ausgingen, dass die Männchen grundsätzlich alles geben. Nimmt am Wochenende die Verkehrsdichte ab, fahren auch die Nachtigallen zurück und locken nur so laut wie nötig.

Waschbär Alex in der Hotelgarage des Park Inn am Alexanderplatz [Foto: Derk Ehlert]

Märchenhafte Zustände. Kammmolche, Moorfrösche und Knoblauchkröten im stillen Tümpel. Füchslein im Schlaraffenland, Wissenschaftler untersuchten die Nahrungszusammen
stellung. Dem Stadtfuchs geht es wesentlich besser als seinem Gevatter im Wald. Feldhasen verwandeln sich in Stadthasen. Die Stadt als paradiesischer Ort des Friedens. Doch die Idylle hat auch Schattenseiten. Schneewittchen und die sieben Zwerge kommen am Sonntagnachmittag. Die sieben Frischlinge und ihre Mutter toben durch Rabatten entlang der Argentinischen Allee. Alltägliche Begegnungen – Berlin ist Wildschweinhauptstadt – und moderierender Alltag für Förster Marc Franusch. Erschießen, das will keiner, aber die Biester nun sogar in der Kinderplansche, also jetzt reicht es dann doch. Zwei bis drei Wochen abwarten und nicht füttern, rät Franusch geduldig.
„Füttern. Nein Danke!“ steht auch auf dem eigens erstellten Faltblatt der Berliner Forsten. Wildschweine gehören nicht gemästet mit Hundefutter und Spaghetti. Derk Ehlert, Jagdreferent der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, warnt, verlieren die Tiere die letzte Scheu vor den Menschen, dann stellen sie eine potentielle Gefahr dar. Sie werden dreister. Wildschweine sind intelligent. Aufihrem Weg durch das Dickicht der Städte haben sie ihre festen Verabredungen: kennen die Öffnungszeiten von Supermärkten, stehen beim Pausenklingeln vor Schultoren, durchstöbern den Müll der Badegäste im Sommer. Die Senatsverwaltung berät bei Wildschweinproblemen. Was kann der Bürger am Stadtrand tun? Er muss sich wappnen. Robuste Zäune um Beete, Abfalltonnen und Komposthaufen ziehen. Umfriedungen mit Betonfundamenten werden empfohlen. Nicht zuletzt der Hinweis vom Amt: Wildschweine können im Bedarfsfall auch springen. Deshalb sollte eine Höhe von 1,50 Metern eingehalten werden.
Auch ohne Wildschwein im Vorgarten darf man sich vom Zusammentreffen der Städter und der wilden Tiere angesprochen fühlen. Wo sollte ein Nistkasten hängen. Was brauchen Gebäudebrüter? Muss es wirklich ein Laubpuster sein? Mit einsetzendem Frost beginnt die Vogelhäuschensaison, und Tipps für die richtige Mischung gibt der NABU.

Brit Hartmann
Das Buch und sein Autor Florian Möllers [Foto: Staffan Widstrand]

Informationen

  • Florian Möllers, Wilde Tiere in der Stadt. Knesebeck Verlag,
    München 2010, 176 Seiten, 29,95 Euro
  • www. wildesberlin.de

 

45 - Winter 2010/11
Stadt