Fliegen ist notwendig

Kennen Sie Melli Beese? Oder Hans Grade? Diese frühen Flugpioniere haben ein spannendes Leben geführt, das untrennbar mit der Geschichte des vor genau hundert Jahren in Betrieb genommenen Flugplatzes Berlin-Johannisthal verknüpft ist. Der große Tag war der 30. Oktober 1909. Da verdiente sich Hans Grade, ein dreißigjähriger Techniker aus dem brandenburgischen Borkheide, mal eben die für damalige Verhältnisse gewaltige Summe von 40.000 Mark. Mit seinem von ihm selbst konstruierten Eindecker flog er auf dem neuen Flugplatz von Johannisthal einige vorgeschriebene Figuren, landete nach zwei Minuten und 43 Sekunden sicher - und gewann damit den von einem Industriellen gestifteten Lanz-Preis der Lüfte. Der deutsche Motorflugsport hatte seinen ersten Star. Grade war einer von jenen jungen, waghalsigen Technik-Enthusiasten, ohne die der Motorflug nie auf Touren gekommen wäre. 1879 als Sohn eines Lehrers im pommerschen Köslin geboren, gründete er 1905 eine Motorenfabrik. Parallel dazu entwickelte er ohne solides wissenschaftliches Fundament, aber mit viel Enthusiasmus ein Flugzeug (damals noch einen Dreidecker), mit dem er im Herbst 1908 in Magdeburg den ersten Motorflug auf deutschem Boden absolvierte. Wobei Flug reichlich viel gesagt ist: Die Quellen streiten sich, ob die Fluglänge 18, 60 oder 100 Meter betrug - auf jeden Fall war es eher ein Hopser, der zudem mit einer veritablen Bruchlandung endete. Ernsthaft verletzt wurde Grade dabei nicht - ganz anders als zahlreiche seiner Kollegen, die ihm bald nacheiferten. Im Jahr 1912 soll es in Deutschland alle zwei Wochen einen Flugtoten gegeben haben. So gefährlich war das Metier, dass der Allgemeine Deutsche Versicherungsverein „Seiltänzer, Tierbändiger, Akrobaten und Luftschiffer" ausdrücklich von der Versicherung ausschloss. Grade aber stellte ohne größere Blessuren eine Bestleistung nach der anderen auf: So hielt er sich 1910 viereinhalb Stunden lang in der Luft, und 1911 stieg er auf 1450 Meter Höhe auf. Nach dem Ersten Weltkrieg verlegte er sich auf die Entwicklung von Automobilen. 1946 starb er friedlich im heimatlichen Borkheide, wo heute ein Museum an sein Wirken erinnert. Ein so langes Leben war einer der faszinierendsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Luftfahrt nicht vergönnt. 1925 erschoss sich Melli Beese, die erste deutsche Motorfliegerin, im Alter von 39 Jahren in Berlin und setzte damit einem geradezu romanhaften Leben ein Ende. Mit staunenswerter Hartnäckigkeit hatte die junge Melli Beese, 1886 in Dresden geboren und in Stockholm zur Bildhauerin ausgebildet, ihren Platz in der gefährlichen Männerdomäne erkämpft. Allein schon einen Ausbildungsplatz - als Frau - zu erhalten, war alles andere als einfach. Dass sie schon bei ihrem zweiten Flug abstürzte und sich schwer verletzte, bremste sie ebenso wenig wie die Intrigen der lieben Kollegen. „Bald waren ein paar Zündkerzen gegen verrußte ausgetauscht, bald das Benzin bis auf einen geringen Rest abgelassen worden", erinnerte sie sich später in ihrer Autobiographie. Hellmuth Hirth, der erfolgreichste Motorpilot der Vorkriegsjahre und Beeses Ausbilder in den Johannisthaler Rumpler-Werken, machte kein Hehl daraus, was er von ihren Ambitionen hielt. „Der Unterricht von Damen als Flugschülerinnen", schrieb er, „hat seine Schattenseiten. Die ganze Sache wird von ihnen lediglich als Sensation aufgefasst und dient dem Publikum nur zur Belustigung." Dabei bewies Melli Beese das Gegenteil. Kaum hatte sie allen Hindernissen zum Trotz an ihrem 25. Geburtstag als erste deutsche Frau eine Flugzeugführerberechtigung erworben, nahm sie erfolgreich an Wettbewerben teil, um bald eine eigene Flugschule mit angeschlossener Fabrik zu gründen. Mit dem Ersten Weltkrieg aber war ihre Karriere zu Ende: Weil Beese einen französischen Kollegen geheiratet und die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, waren ihr als feindliche Ausländerin fortan alle Wege verbaut. Finanzielle Probleme und gesundheitliche Schwierigkeiten verhinderten, dass sie nach dem Krieg wieder auf die Beine kam. Heute erinnern in Berlin eine Skulptur in der Melli-Beese-Anlage in Halensee und die Melli-Beese-Straße im Wissenschaftspark Adlershof an die bewegte, tragische Geschichte einer großen Frau. Während der Erste Weltkrieg den Bruch im Leben der Melli Beese darstellte, bedeutete er für andere Flugunternehmer die große Chance. Denn die Armeeführung erkannte das militärische Potential, das im neuen Verkehrsmittel steckte, und förderte die Entwicklung der Motorflugzeuge nach Kräften. Besonders geschickt davon profitierte Anthony Fokker, dessen Name durch die bis 1996 produzierten Fokker-Flugzeuge noch heute vielen bekannt sein dürfte. Auch das Wirken des gebürtigen Niederländers ist eng mit Berlin verbunden: 1890 als Sohn eines Kaffeehändlers auf Java geboren, gründete er 1912 am Flugplatz Johannisthal sein Unternehmen Aeroplanbau, das er allerdings schon bald nach Schwerin verlegte. Wie Grade und Beese war er sowohl ein begnadeter Pilot als auch ein begabter Konstrukteur - und außerdem, im Unterschied zu den beiden anderen, ein erfolgreicher Geschäftsmann. Zu verdanken hatte er dies insbesondere einer Erfindung, die im Krieg eine entscheidende Rolle spielen sollte: Ingenieure seiner Firma entwickelten einen Synchronautomatismus, der es ermöglichte, mit einem Maschinengewehr aus einer Propellermaschine zu schießen. Viele deutsche Kampfpiloten, darunter Manfred von Richthofen (der berühmte „Rote Baron"), flogen ihre Einsätze mit einer Fokker-Maschine. Nach dem Krieg ging der Unternehmer mit seiner Fabrik zunächst in die Niederlande und dann in die USA. Wie Grade starb Fokker, der in seiner Jugend durch waghalsige Flugmanöver für Aufsehen gesorgt hatte, einen unspektakulären Tod: 1939 erlag er den Folgen einer auf den ersten Blick harmlosen Nasenoperation. Vielleicht dachte er zuletzt an die Worte, welche die unglückliche Melli Beese vor ihrem Freitod hinterlassen hatte: „Fliegen ist notwendig. Leben nicht." Emil Schweizer

39 - Sommer 2009