Geschichten aus Tallinn

Jung, lebendig, kreativ – so präsentiert sich Estlands Kapitale, die gemeinsam mit der finnischen Stadt Turku, 2011 Europäische Kulturhauptstadt ist. Seit Jahreswechsel kann man hier auch mit dem Euro bezahlen. Tallinn begeistert mit einer spannenden Mischung aus mittelalterlicher Architektur und modernem Hauptstadtleben.

Es hat eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Innenstädte Europas und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Ein Stadtrundgang führt entlang der alten Stadtmauer. Kopfsteingepflasterte Gassen winden sich hinauf zum Domberg mit der Burg, in die Altstadt mit den prachtvoll restaurierten Patrizierhäusern, zur orthodoxen Alexander-Newski-Kathedrale mit den malerischen Zwiebeltürmen, zum mittelalterlichen Rathaus. Von den Aussichtsterrassen hat man einen grandiosen Blick auf die Unterstadt bis hin zur tiefblauen Ostsee. Unter dem Motto „Geschichten am Meer“ sind in diesem Jahr mehr als 200 Veranstaltungen und kulturelle Höhepunkte geplant. Musikalisch wird ein breites Spektrum von klassischer Musik bis hin zu Pop geboten. Neben Barock- und Kammermusik-Festivals können sich Musikfans auch auf Jazzkonzerte u.a. mit Bobby McFerrin freuen. Wagners „Parsifal“ bringt die estnische Nationaloper im August direkt am Meer auf die Bühne. „Die Visitenkarte unserer Kultur“, so die Veranstalter im Programmheft, sei die estnische Chormusik. Sie steht im April beim Chorfestival im Fokus. Singen ist seit jeher eine Leidenschaft der Esten. Schließlich ist sogar die friedliche Wende und Unabhängigkeit von der Sowjetunion als „Singende Revolution“ in die Geschichte eingegangen. Das Meer hatte schon immer eine wichtige Bedeutung für die heute 400 000 Einwohner zählende Stadt. Tallinn, einst bekannt als Reval, gehörte im Mittelalter zu den bedeutendsten Hansestädten und prosperierte durch den florierenden Ostseehandel. Zahlreiche Kontor- und Gildehäuser, beschlagen mit deren verwitterten Wappen, sind heute noch Zeitzeugen dieser großen Vergangenheit. Das Haus der Großen Gilde beherbergt inzwischen das Estnische Historische Museum. Und es gibt sogar ein Marzipanmuseum in der Pikk Straße.
Lebendig, modern und geprägt von malerischer Zwiebelturmarchitektur und liebevoll restaurierten Patrizierhäusern – Tallinn präsentiert sich als Kulturhauptstadt [Fotos: Heike Neuenburg]

Während der Sowjetzeit war der Zugang zum Meer verwehrt, der Hafen militärisches Sperrgebiet. Das neu gestaltete Meeresmuseum ist ein weiteres Highlight des Programms. Die Top-Attraktion ist hier ein U-Boot, das einzige U-Boot, das der estnische Staat je besessen hat. Das Museum ist zugleich Ausgangspunkt einer geplanten Seepromenade, dem „Kulturkilometer“. Ob sich das zeitlich allerdings alles so realisieren lässt, ist fraglich. Aber das kann auch ein gutes Omen sein, denn einer Legende zufolge darf Tallinn nie ganz fertiggestellt sein, sonst passiere ein Unglück. Geschichte und Geschichten gibt es reichlich. Spannend auch ein Besuch im 23. Stock des Sokos Hotel Viru, dem alles überragenden Gebäude, das einst Finnen im Auftrag der Sowjets bauten, wo – wie jeder wusste – in der obersten Etage, „die es gar nicht gab“, der KGB saß und über alles wachte. Bei ihrer übereilten Flucht hinterließen sie genügend Material, um heute dort ein KGB-Museum zu eröffnen – ein anschauliches Stück Zeitgeschichte. Der Flughafen Tallinn befindet sich nur vier Kilometer außerhalb der Stadt. Der Hafen ist inzwischen ein bedeutender Fährhafen mit Verbindungen nach Rostock, Helsinki, Stockholm, Sankt Petersburg, und auch Kreuzfahrtschiffe haben ihn in ihre Routen aufgenommen. Verwinkelte Gässchen, Galerien, Läden mit Kunsthandwerk, Hotels in historischen Gemäuern, schicke Bars und Lokale sorgen für viel Flair. Designershops wie Galerii Soosoo, Hong, Rotermann Quarter begeistern mit wagemutiger Kreativität. Kaffeehäuser verwöhnen mit feinen Pralinen und Torten. Köstlich die handgemachten Patisserien im herrlich altmodischen Café „Chocolats de Pierre“ in der Vene Straße 6. Und auch das Nightlife hat einiges zu bieten. Hotspots sind z.B. „Clazz“, ein Club mit Live-Jazz, das loungige Kaheska, das „Hollywood“, Clubbing-Treff der jungen In-Szene. Im Sommer sind die Tage lang, die Nächte kurz, die Straßen, Cafés, und Bars voll und vibrierend. Selbst die renommierte New York Times hat Tallinn zu einem der angesagtesten Plätze, und Trendscouts zur Hauptstadt des Designs erklärt. In der Altstadt schläft man in Häusern mit Historie, wie im Hotel Telegraaf, das früher Sitz des Telegrafenamtes war. Das Gebäude von 1878 wurde erst kürzlich komplett renoviert und in ein elegantes Boutique-Hotel mit allem Komfort verwandelt. Eine Oase der Ruhe ist im Sommer der bezaubernde Innenhof mitten im Zentrum der lebhaften Altstadt. Das Restaurant Tchaikovsky serviert klassische russische Küche mit französischem Touch. Passend zum Menü sind selbst die Servietten in Schwanenform gefaltet. Wer Zimmer mit Aussicht bevorzugt, wählt das mitten in der Stadt gelegene Swissotel mit Pool und Spa. Von den in modernem Design gestalteten Zimmern und Suiten mit eigener Espressomaschine und bodentiefen Fenstern hat man einen spektakulären Panoramablick auf Stadt, Hafen und Bucht. Abends sollte man unbedingt in die 30. Etage fahren, um bei einem Drink in der Bar oder im Horisont Restaurant die 360-Grad-Aussicht auf die Lichter der Altstadt und die Weite der Baltischen See zu bewundern. Das schönste und romantischste Hotel Estlands liegt jedoch auf der kleinen, zauberhaften Ostsee-Insel Muhu mit idyllischem Biosphärenreservat und nur einer Handvoll winziger Dörfchen. Pädaste Manor ist ein liebevoll restauriertes 444 Jahre altes Herrenhaus, umgeben von einem riesigen Park, das sich mit seinen Nebengebäuden in U-Form zur See hin öffnet. Ruhiger und romantischer geht’s nicht, hier scheint die Zeit stillzustehen. Grüne Rasenflächen laden zum Picknick, das intime Spa zu baltischer Wellness ein. Sterneverdächtig ist die prämierte Nordic Islands Cuisine des kreativen Küchenchefs Peeter Pihel, einem der besten Köche Estlands. Das Gourmet-Restaurant Alexander zählt zu den feinsten Adressen des Landes, und das zu Recht. Ein nicht alltägliches Erlebnis ist ein Bad im alten, holzbeheizten Zuber draußen mitten im Biosphärenreservat. Leise schwappen die Wellen an den Steg, man schaut über die Bucht der Baltischen See, kann die Stille fast mit den Händen greifen, und während hier, wenn man Glück hat, sich ein Elch am Waldrand zeigt, tobt in der kaum zwei Autostunden entfernten quirligen, lebendigen Hauptstadt der Bär.

Heike Neuenburg

Informationen

  • ww.telegraafhotel.com
  • www.tallinn.swissotel.com
  • www.padaste.ee
46 - Frühjahr 2011