Volk unter Bäumen

Der deutsche Beitrag zum Internationalen Jahr der Wälder bündelte sich in rund fünftausend Veranstaltungen und Aktionen unter dem Motto „Entdecken Sie unser Waldkulturerbe“. Der besonderen Beziehung der Deutschen zum Wald widmet sich eine umfangreiche Ausstellung des Deutschen Historischen Museums.

In den Medien wurde das ganze Jahr über reichlich über die Bedeutung des Waldes und über die aktuelle Waldpolitik geschrieben. Auch hat die dritte Bundeswaldinventur begonnen. Seit Mai dieses Jahres werden stichprobenartig etwa 400 000 Bäume in allen deutschen Wäldern vermessen, um Aufschluss darüber zu bekommen, wie sich der Wald verändert.
Das Deutsche Historische Museum dagegen nähert sich dem Thema Wald auf seine eigene Weise mit der Ausstellung „Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald“, die nicht nur Naturschutz, Forstwirtschaft und Waldsterben, sondern vor allem die symbolische und spirituelle Bedeutung, die Suche nach der Seelenlandschaft der Deutschen thematisiert. Dem Waldmythos folgend, der in der Zeit der Romantik geboren wurde und bis heute im kollektiven Bewusstsein eine Rolle spielt.

Fotowettbewerb „Ohne ihn...“, Platz 5 im Monat April: „Ohne ihn... hätten wir keine gute Luft mehr zum atmen.“ [Foto: Josef Hinterleitner]


Den Anstoß dafür, die Deutschen als ein Volk „unter Bäumen“ zu sehen, gab wohl der römische Schriftsteller und Politiker Tacitus mit seiner „Germania“. Eine ethnographische Abhandlung über die Germanen, die darin in riesigen Urwäldern, einsamen Waldlandschaften mit beseelten Bäumen leben, an Waldgeister und Dämonen glauben – ein Naturvolk, so ganz anders als das zivilisierte Rom. Die Gebrüder Grimm kreierten die Germania gar als erstes deutsches Geschichtsbuch. Tatsächlich war der Zeitgeist seit Beginn des 19. Jahrhunderts vom Thema Wald geprägt. Es trieb Dichter, Maler, Musiker und auch Wissenschaftler um, als Ausdruck der Suche nach einer nationalen Identität. Geschichten und Sagen, allen voran „Die Schlacht im Teutoburger Wald“ mit dem Sieg der Germanen über die Römer, boten den Stoff. In den bekanntesten deutschen Märchen Schneewittchen, Rotkäppchen und Hänsel und Gretel spielt der Wald eine zentrale Rolle. Und kaum ein Schöngeist des 19. Jahrhunderts konnte sich der Magie des Waldes entziehen: „O schöner, grüner Wald“, dichtete Joseph Freiherr von Eichendorff, die Bilder von Caspar David Friedrich sind ohne das Sujet Wald nicht denkbar, und Carl Maria von Webers im Wald spielender „Freischütz“ wurde in Berlin als „erste deutsche Nationaloper“ gefeiert. So avancierte schließlich der Wald zur künstlerischen Projektionsfläche, zum nationalen Symbol und zum Sehnsuchtsort der Deutschen, die sich fortan mehr oder weniger als „Waldvolk“ verstanden und bis zum heutigen Tag Wälder nicht nur als Ansammlung von Bäumen oder als eine von Menschen geformte Kulturlandschaft verstehen.
Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum bringt das Kunststück fertig, nahezu sämtliche Aspekte zu vereinen, die einerseits das komplexe Thema Wald beleuchten, andererseits die besondere Beziehung der Deutschen zum Wald ausmachen. Gleichwohl offenbart der Titel den offensichtlichen Fokus der Ausstellungskonzeption, nämlich den Wald als immerwährende Idee im kollektiven Bewusstsein widerzuspiegeln. Dabei wurde und wird bis heute unsere Wahrnehmung vor allem durch die Bilder geprägt. Sie sind denn auch das Herzstück der Ausstellung mit Werken unter anderem von Caspar David Friedrich, Carl Blechen, Moritz von Schwind, Ludwig Richter, Walter Leistikow bis hin zu Anselm Kiefer.
Nicht ausgespart wird auch die Vereinahmung des Waldmythos durch die Nationalsozialisten, „als der Wald seine Unschuld verloren hat“. So vereint die Ausstellung auf 1000 Quadratmetern mit rund 550 Exponaten in neun Themenräumen ein Wald-Panorama, das von der Entstehung der Forstwirtschaft bis zur Debatte über das „Waldsterben“ reicht. Letzteres eine typisch deutsche Wortschöpfung, die genauso auch im englischen Wortschatz zu finden ist. So hat letztlich bis heute der deutsche Waldmythos auch anderswo nichts von seiner Faszination verloren: „Es war ein dunkler deutscher Wald, irgendwo im Nirgendwo“, träumte kürzlich die Sängerin der britischen Band Florence and the Machine. Und die Schriftstellerin Thea Dorn beschwört bereits wieder die deutsche Seele auf dem Kickelhahn, wo für sie noch immer über allen Gipfeln Ruh ist. Dass es der Ausstellung gelingt, „im speziellen Verhältnis zwischen Wald und Mensch unserer heutigen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten“, ist das besondere Verdienst des Kuratorenteams. Getreu nach dem alten deutschen Sprichwort: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Reinhard Wahren


Ausstellung

Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald
Bis 4. März 2012
Deutsches Historisches Museum
Ausstellungshalle/UG
Unter den Linden 2/Hinter dem Zeughaus, 10117 Berlin
Mit umfangreichem Begleitprogramm, vor allem mit Veranstaltungen für Kinder, Familien und Schulklassen (Vorträge, Lesungen, Märchenfilme)

49 - Winter 2011/12