Tempelhof braucht keinen Bauchladen

Bürgerbeteiligung statt schnelle Übergangslösungen

Das Interesse der Berliner an der Stadtentwicklung ist so groß wie lange nicht. Volksentscheid, Demonstrationen gegen Bauvorhaben und Diskussionen um zukünftige Planungen sind Ausdruck eines starken Bürgerengagements für die Stadt. Nach zwei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung hat Berlin sich als Metropole mit städtebaulicher Neugestaltung entfaltet und will sich jetzt, mit der Eröffnung des Großflughafens, weiter in Richtung internationale Metropole entwickeln.

Die weitere städtebauliche Entwicklung ist auch das Kerngeschäft des neuen Senators für Stadtentwicklung und Umwelt, Michael Müller, der sich nach seiner Amtseinführung gegen­über Bauträgern, Architektenkammer, Presse und interessierter Öffentlichkeit diskussionsfreudig und visionär zeigt. Der ehemalige SPD-Fraktionschef sieht allerdings die Schwerpunkte unmissverständlich in Wohnungsbau und neuer Architektur. Ganz im Gegensatz zu nebulösen Verlautbarungen, die sich beispielsweise im vorläufigen Motto der zukünftigen Internationalen Bauausstellung (IBA)„Wohnen, Wissen, Wirtschaft“ wiederfinden. Stattdessen will Müller Entwürfe für die Stadt von morgen, mit neuen Wohnformen, Wohnungsbau ohne großen Flächenbedarf, Mehrgenerationenhäusern, Häusern jenseits der Berliner Traufhöhe, Wohnen unter ökologischen Kriterien und vor allem Visionen für die großen innerstädtischen Entwicklungsflächen, wie beispielsweise das Tempelhofer Feld, das zu den IBA-Planungen gehört. Tempelhof, wo Müller selbst wohnt, brauche keinen „Bauchladen“, wie er die derzeitige Rand­bebauung nennt, mit vielen unterschiedlichen Nutzungen, sondern er favorisiert eher zukunftsorientierte, der Metropole angemessene Lösungen. Die geplante Landeszentralbibliothek, verstanden als Bildungs- und Kommunikationszentrum, könne eine solche Investition sein. Dass derartige Entwicklungsvorhaben einen langen Atem brauchen, beweise der zwanzigjährige Wissenschafts- und Technologiepark Adlershof. So sieht Müller auch für den Flughafen Tegel nach dessen Schließung kein schnell wachsendes Zentrum für Zukunftstechnologien. Eine Entwicklungsaufgabe solchen Ausmaßes, möglicherweise für einen Gewerbe- und Wohnpark, brauche Zeit und sehr sorgfältige Planung. Gleiches gelte für die Gestaltung exponierter Flächen, wie der historischen Mitte Berlins vor dem Roten Rathaus, zwischen Fernsehturm und Humboldt-Forum. Es gehe darum, der historischen und neuen Bedeutung für die Stadt gerecht zu werden. Dagegen sieht der Senator lediglich die Europacity nördlich des Hauptbahnhofs als Wohn- und Gewerbegebiet bereits auf einem schnelleren Weg.

Anders verhält es sich mit dem Weiterbau der A 100 bis nach Treptow sowie dem Erhalt des ICC. Dass der Ausbau nur Sinn hätte, wenn eine weitere Verlängerung nach Friedrichshain folgte, stehe wohl im Augenblick nicht zur Debatte. Zunächst sei der Teil bis nach Treptow beschlossene Sache. Das ICC abzureißen, für viele Berliner ein Wahrzeichen und im Übrigen nach wie vor ein leistungs­fähiges Kongresszentrum, könne sich Müller kaum vorstellen.

Der neue Senator zeigt sich aber genauso diskussionsfreudig und veränderungswillig bezüglich der aktuellen Wohnungspolitik. Ein Umdenken erfolge bereits mit dem Rückkauf privatisierten Wohnungsbestandes durch die städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Ebenso wehe ein anderer Wind bei der Liegenschaftspolitik. So will der Senat zukünftig nicht mehr nach Höchstpreis verkaufen, sondern im Sinne der Stadt, was immer darunter zu verstehen ist. Als skandalös bezeichnete Müller den Leerstand von achtzigtausend Wohnungen. Soziales Aufeinanderprallen verhindern und die Mietpreisentwicklung nach oben dämpfen, das sind die erklärten Ziele des neuen Stadtentwicklungssenators.

Reinhard Wahren

 

50 - Frühjahr 2012
Stadt