Von morbidem Charme zu teurem Glanz

Kaum ein Gebäude hat den morbiden Charme Ost-Berlins nach dem Fall der Mauer besser illustriert als das ehemalige Kaufhaus in der Oranienburger Straße, das als „Kunsthaus Tacheles“ weltbekannt wurde und in seinem ruinösen Zustand auf Millionen von Instagram-Posts als Hintergrund und Sujet diente. Dass ausgerechnet diese lange als Ruine dahindämmernde Symbol-Immobilie der deutsch-jüdischen Geschichte nun zum kulturellen Anker eines neuen hippen Stadtquartiers wird, ist nicht ganz ohne Ironie.

Mit dem schwedischen Fotomuseum „Fotografiska“ eröffnet ein neuer Nutzer aus der Welt der Kunst seine Dependance. Aber das war es auch schon. In kommerzieller Weise kehrt das Areal zu seinen Wurzeln zurück: Denn der Bau der „Friedrichstraßen-Passage“, zu dem das Tacheles-Gebäude gehörte, war einst von einer Aktiengesellschaft angestoßen worden, die die Gunst der Lage des Grundstücks an einer der beliebtesten Einkaufsstraßen in Mitte ausnutzen wollte: Die Läden gingen nahtlos ineinander über wie auf einem Basar – die Kunden zahlten an einer zentralen Kasse. Bald übernahm die Wertheim-Familie, der König des Berliner Einzelhandels, die Regie in dem von dem Architekten Franz Ahrens 1909 gebauten Haus. Sie ließ in den 1920er-Jahren eine Stahl-Glas-Decke in die Passage einziehen, die die große Kuppel aus Beton am Knick zwischen Friedrich- und Oranienburger Straße verdeckte. Diese Wegeführung wird nun wieder hergestellt.
Im Krieg teilweise zerstört, dämmerte das Gebäude in der DDR-Zeit als Gewerkschaftshaus dahin. Der Teil-Abriss begann 1980 und die elegante Kuppel wurde gesprengt. Der Künstlerinitiative Tacheles, die das Haus 1990 besetzte, ist es zu verdanken, dass ein Teil des Hauses gerettet wurde. Bis 2012 hatten Künstler-Ateliers im Haus Platz und wilde Stahl-Skulpturen schmückten den Hof. Nachdem jedoch die Fundus-Immobilien-Gruppe das Grundstück gekauft hatte, ließ sie von dem konservativen amerikanischen Stadtplaner Andrés Duany das ganze Gelände beplanen. Sie wollte das Areal in ein dichtes, teures Wohnviertel für Kunden mit Retro-Geschmack verwandeln. Hof und Erdgeschoss des Tacheles wurden geräumt und das Haus für Besucher gesperrt. Es folgten Jahre des Leerstands. Später verkaufte die durch das Hotel Adlon berühmt-berüchtigt gewordene Firma Fundus ihr wertvolles Gelände an die Vermögensverwaltung Perella Weinberg aus New York. Sie engagierten die Architekten Herzog & de Meuron, die nun die Ideen leicht verändert und in modernerer Architektur umsetzen. Weil der Bebauungsplan vorschreibt, dass das ehemalige Tacheles-Haus kulturell genutzt werden muss, wird das Stockholmer Fotomuseum Fotografiska dort eine Dependance einrichten. Auch wenn das Museum unter Künstlern und der Öffentlichkeit in Schweden sich einen zweifelhaften Ruf erworben hat, was die streng-kommerzielle Ausrichtung des Hauses ohne Sammlung betrifft, ist die Dependance für Mitte, das die Abwanderung der weltberühmten C/O-Foto-Galerie nach Charlottenburg verdauen musste, eine Bereicherung. In Tallin und New York gibt es bereits Filialen des Stockholmer Stammhauses.

In den zehn Neubauten um das Tacheles herum werden teure Eigentumswohnungen, Büros und Läden einziehen. Die Baseler Architekten Jacques Herzog & Pierre de Meuron, die auch die „Kunstscheune“ am Kulturforum planen, folgen dabei dem Masterplan ihres Vorgängers Duany aus Miami. Die Architekten füllten zunächst im Geiste den ganzen Block mit Etagen und schnitten Plätze, Höfe und Wege wieder heraus, um ihn „porös und durchlässig“ zu machen. Die Figur der Friedrichstraßenpassage griffen sie wieder auf. Ein großer Torbogen markiert an der Oranienburger Straße wie ehemals den Eingang zur Passage, die mit einem Knick zur Friedrichstraße führt. Allerdings wird sie nicht überdacht. Ein offener, achteckiger Platz bildet das Zentrum. Gerahmt wird die Passage vom Bürohaus „Scape“ (Entwurf: Herzog & de Meuron), in dem drei Brücken im sechsten Geschoss die Passage queren. Zur Friedrichstraße hin bilden zwei achtgeschossige Bauten ein zweites Tor. Der zur Oranienburger Straße hin offene „Aaron-Bernstein-Platz“ (eigentlich Hof) liegt im Osten des Areals. Er ist nach dem Begründer des deutschen Reform-Judentums benannt. Um ihn herum liegen drei von Herzog & de Meuron-Gebäude sowie zwei, die von Grüntuch Ernst Architekten stammen. Die Erdgeschosse bieten Flächen für Restaurants und Läden. Bis auf den Hofgarten sollen alle Wege und Plätze Tag und Nacht öffentlich zugänglich sein.

Vom Bernstein-Platz führt ein Durchgang zur Passage und ein weiterer über den künftigen Johannisplatz zur Johannisstraße. In der Südostecke liegen um einen Hofgarten die Wohnhäuser Vert und Suites (mit Fitness Club und Spa) sowie das Haus Joux von Arno Brandlhuber + Petzet. Die selben Architekten haben auch das Gebäude Laika entworfen, in dem entlang einer langen Brandwand Mikroapartments ab 27 Quadratmetern verkauft werden. Insgesamt werden 133 Eigentumswohnungen in Größen zwischen 50 und 375 Quadratmetern Fläche in den sieben Wohngebäuden angeboten. Im Frame gibt es Loft-Wohnungen mit Raumhöhen von bis zu 3,80 Meter. In den unteren Etagen des Vert werden „Townhouses“ angeboten für Käufer, die Wert darauf legen, eine eigene Hauseingangstür zu haben. Im Schnitt kosten die Wohnungen mehr als 14 000 Euro pro Quadratmeter. Für Normalverdiener ist wohl nicht dran zu denken, dort eine Wohnung zu erwerben.

Architektonisch am interessantesten wird das tortenstückförmige Wohngebäude ORO an der Oranienburger Straße. Es hat eine Fassade aus hellen Ziegeln und Rundbogenfenstern. In Anlehnung an sein New Yorker Vorbild wird das Haus Flatiron-Building genannt, weil seine spitze Grundstücksform an ein Bügeleisen erinnert. Ihm kommt die Funktion zu, Passanten von der Oranienburger Straße weg in die Welt der Schönen und Reichen zu locken.

Ulf Meyer

 

92 - Frühjahr 2023
Stadt